Biographische Erinnerung

Fräulein Hess

"Fräulein Meyer... , Fräulein Stutz... , Fräulein  Nivergelt..." rief die Schwester Oberin, wobei sie nach jedem Namen eine bedeutungsvolle Pause machte. Sie schaute in die Runde bevor sie fortfuhr die eingegangene Post, fast vorwurfsvoll zu verteilen, obwohl alle Briefe bereits von ihr zensuriert wurden. Es war still im Speisesaal, wir, die Schülerinnen eines Mädcheninternates, warteten voller Spannung darauf, dass auch unser Name aufgerufen würde. Es war unser Höhepunkt in diesem Internatsleben. Kein klirrendes Geschirr mehr, keine Essgeräusche, kein Weinen vor Heimweh und Kälte. Die wöchentliche Verteilung der Post war unsere einzige Verbindung zur Aussenwelt. Wir waren hier zur Nacherziehung. Ich war ungeduldig, kaute an meinem bereits schmerzenden Daumennagel und wartete auf ganz besondere Post.

Ich sollte in den nächsten Tagen Patin werden. Das war eine besondere Freude, da ich noch nicht einmal ganze 16 Jahre alt war. Keine meiner 90 Mitschülerinnen war bereits Patin, es kam mir damit eine besondere Ehre zu. "Fräulein Pfister..., Fräulein Treier..." der Ruf der Oberin lag mehr in ihrem Mund als in ihrem Herzen.  Meinen Namen rief sie nicht auf. Ich fror um mich herum. Es hätte nur zweier Worte gebraucht um mich glücklich zu machen: "Fräulein Hess..."

Dann spürte ich, wie mich die Oberin ansah und geriet sofort in Panik. Was hatte ich falsch gemacht? Ich steigerte meine Qualität der Aufmerksamkeit nach Innen und nach Aussen. Dieses dauernde Gefühl der Unzulänglichkeit verstärkte sich noch als ich sie auf mich zukommen sah, das schwarze Nonnenkleid und den weissen Schleier wehend hinter sich herziehend. ...